• Login:

    • Web
      www.orfinlir.de


Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 43

"Ich hatte doch klare Anweisungen gegeben, Ornithopter zu schicken."
"Verzeihen Sie, Kommandant, aber es liegen keine Eintragungen über einen solchen Befehl vor."
"Aber ich habe sogar danebengestanden, als die Nachricht gesendet wurde."
"Es steht nichts in den Büchern. Wir wissen wirklich nichts davon."
"Aber sie wissen, wer ich bin."
"Ja, Herr Kommandant. Wir haben sie durchgelassen, damit sie die Leute verfolgen können, die ungesehen über die Mauer entkommen sind."

Der Turm war die logische Anlaufstelle gewesen, sobald sie die Mauer wieder erreicht hatten. Genauso logisch war es, den Kommunikationsoffizier aufzusuchen. Was nicht logisch war, war die Tatsache, dass sich niemand im Turm an den Auftrag, die Ornithopter anzufordern, erinnern konnte.
"Vielleicht gibt es einen Spion im Turm?"
"Einen Maulwurf meinst du?"
"Und was soll er gemacht haben?"
„Buddeln.“
"Sehr witzig. Nein ich mein, vielleicht bezaubern? Vielleicht hat er sie vergessen lassen?"
"Und was sollte ein solcher 'Spion' damit zu erreichen versucht haben?" Sie versuchten eine Antwort auf Kol Theronds Frage zu finden. Aber jeder Satz lief ins leere.
"Und wenn wir uns nun nich‘ richtig erinnern?" war der Satz, mit dem Malandro schließlich die Diskussion ins Stocken brachte. Es gab mehrere Versuche, Gegenargumente zu finden, aber keines konnte den Gedanken vollständig zur Ruhe legen, der sich in ihnen eingenistet hatte.
"Dann gibt es vielleicht andere Dinge, an die wir uns nicht richtig erinnern."
"Die Spuren? Sind sie wirklich da raus?"
„Wir sollten sie noch mal überprüfen.“
"Es hat gestern geregnet."
"Grabenschleim."
"Vielleicht sind sie auch gar nicht aus der Feste raus? Vielleicht haben sie es ja nur vorgetäuscht."
"Dann werden wir den Wachtposten befragen. Entweder auch er kann sich nicht erinnern, er kann es bestätigen oder wir haben größere Lücken, als wir derzeit annahmen."

Erst am nächsten Tag trafen sie beim Turm ein, von dem die Nachricht über die Oravahler gekommen war, und es stellte sich heraus, dass nicht alles in ihrer Erinnerung in Frage gestellt werden musste.
"Wie ich in meinem Bericht beschrieben haben, sah ich die Flüchtlinge nach Norden laufen, Kommandant"
"Und sie konnten die Flüchtlinge die ganze Zeit sehen?"
"Ja, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie verschwanden."
"Was meinen sie damit 'sie verschwanden'?"
"Äh. sie ... sie ... in einem Moment waren sie da, und dann waren sie es nicht mehr. Als wären sie unsichtbar geworden."
"Also verfügen sie über Magie", stellte der Botschafter fest.
"Oder Technologie, jenseits dessen, was wir selbst in Xpoch besitzen."
"Das bezweifle ich. Dampfkraft und alles, was ihr Reich erdacht hat, ist nicht in der Lage, über das körperliche hinauszugehen."
Gunnar wollte schon versuchen, ein paar Dinge zu nennen, die die Aussage des Hügelstätters widerlegt hätten. Bis auf den Schnüffler fiel ihm jedoch nichts ein und selbst bei diesem war er sich nicht ganz sicher, wie weit er qualifiziert gewesen wäre.
"Aber sei es wie es mag. Zumindest enthält die Nachricht die Gewissheit für uns, dass nicht alles in unseren Erinnerungen falsch ist."
"Ja, schön, aber wie hilft uns das jetzt mit den Oravahlern?"
"Vielleicht kann uns die Frühlingskönigin noch mal helfen. Naja, so richtig hat sie uns ja letztes Mal nicht geholfen."
"Vilet hätte ich vielleicht fragen können, Mal. Sie wusste immer irgendwie, was ich wollte. Aber die Frühlingskönigin hier, mit der habe ich keinen Kontakt." Und zum ersten Mal war Tiscio traurig, dass er kein Priester mehr war.
"Was dann? Ich habe sonst keine Idee mehr."
"Vielleicht, wenn wir sie nicht verfolgen können, dann können wir uns in sie hineindenken."
"Große Idee, Tiscio, aber wir wissen so gut wie nichts über sie." Gunnar griff sich an den Kopf, als plötzlich ein Schmerz von hinter seinem linken Ohr zu seiner Stirn schoss.
"Grabenschleim. Ich glaub', ich muss mal schlafen." Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Schmerz nicht von seiner Müdigkeit herrührte.
"Könnten wir einen neuen Orni beantragen, Herr Therond."
"Einen Orni? Sie meinen einen Ornithopter? Das könnten wir tun, allerdings sollten wir uns zuvor darüber klarwerden, wohin wir damit fliegen würden", er zögerte einen Moment, fügte dann aber noch hinzu: "Und ich möchte sie erneut bitten, mich an diesem Ort mit meinem Titel anzureden. Es ziemt sich nicht für Menschen aus Xpoch, mich an diesem Ort zu freundschaftlich anzusprechen."
Die vier [Hügelstätter] sahen ihn erstaunt an, und selbst Wintur, der für gewöhnlich auch die unsinnigsten Gedankengänge seiner Schützlinge mit steinerner Miene über sich ergehen ließ, verzog irritiert das Gesicht.

Als sich abzeichnete, dass es im Turm nichts mehr zu tun gab und ihnen auch keine Idee zufliegen würde, begaben sich die Xpochler auf die freie Fläche vor dem Gebäude. Wie so oft, wenn sich keine bessere Arbeit fand, begann Wintur damit, den jungen Metrowächter im Stockkampf zu trainieren.
Malandro, der neben Gunnar an die Steinmauer gelehnt saß, kommentierte jeden Hieb, den Tiscio einstecken musste, bis er schließlich feststellte: "Eigentlich ganz bannig hier. Man könnte meinen, dass sie gar keine Teufelsanbeter sind."
"Das wollte ich dich eh schon die ganze Zeit fragen", zog sich Tis kurz aus dem Gefecht zurück. "Sollte dir hier doch gefallen. bannige Magier-Krieger, freies Zaubern. Das sollte doch was für dich sein."
"Stimmt. Zuhause muss ich das wohl für immer verstecken. Und außerdem wartet nur meine kaputte Mutter auf mich … gut, auch noch Unterschnitt."
"Versteh mich nicht falsch, aber ...", Tiscio kam jedoch nicht mehr dazu seinen Satz zu beenden, weil er einem Angriff Winturs ausweichen musste, der ihn vollkommen überraschte und letztlich zu Boden warf.
Als er sich wieder erhob und mit einer nachlässigen Bewegung den Staub aus seiner Hose klopfte, sprang Gunnar auf.
"Hattet ihr Staub in euren Klamotten?" rief er aufgebracht aus und warf seinen Freunden abwechselnd fragende Blicke zu.
"Natürlich hatte ich schon Staub in meinen Klamotten."
"Jeden Tag, außer es regnet."
"Dann ist es Match."
"Ihr Nuttnasen! Ich meine, als wir aus der Feste kamen. Waren wir da verstaubt?"
"Wieso fragst du? Natürlich waren wir verstaubt. Uns ist eine Decke auf den Kopf gefallen."
"Ja, genau. An die Decke kann ich mich erinnern. Aber nicht an den Staub."
"Wir müssen verstaubt gewesen sein. Mit der Decke und so."
"Bestimmt."
"Ja, genau."
"Aber waren wir es?"
"Herr van der Linden, wollen sie andeuten, dass uns, wie sie es nennen, keine 'Decke auf den Kopf gefallen ist'?"
"Ich weiß es nicht. Aber wenn ich daran zurückdenke, wie wir an der Mauer stehen, und danach, waren unsere Klamotten ziemlich sauber."
Wie so oft, wenn niemandem etwas einfallen wollte und sie erst einmal nachdenken mussten, um auf eine mehr oder weniger geistreiche Antwort zu kommen, dauerte es eine Weile, bis jemand etwas zu sagen wagte. Und wie fast genauso oft, machte was folgte, die Sache nicht besser.
"Vielleicht sind wir noch drin'."
"Boa" Heftig!"
"Wie können wir noch drin' sein, wenn wir hier draußen sind?"
"Weil wir offensichtlich, seitdem wir reingegangen sind, eine Lücke haben, Tiscio. Und wenn die einstürzende Decke nicht stimmt, dann stimmt vielleicht alles danach auch nicht."
"Vielleicht liege ich unter dem Steinhaufen und bilde mir das gerade alles nur ein."
"Bildest du dir das hier gerade ein?" frage Malandro und bewarf Tiscio mit Sand.
"Hey!"
"Ne, du bist dreckig. Aber Gunnar hat recht. Ich kann mich auch nicht daran erinnern. Wir hätten am ganzen Körper schmutzig sein sollen. Und ich habe eben noch mal überlegt: Hätten wir nicht auch überall wenigstens blaue Flecke haben müssen?"
"Mir tun schon ein paar stellen weh, aber ..." Gunnar öffnete den Waffenrock, den er immer noch trug und suchte an einer Stelle, wo das Kleidungstück einen Riss aufwies. "Ich habe es neulich schon gedacht, aber irgendwie habe ich es dann wieder vergessen. Das hier sieht eher nach einem Schnitt aus. Nicht nach einem Steinschlag."
Tiscio kniff sich und verzog das Gesicht vor Schmerz. "Wacht man wirklich auf, wenn man sich in einem Traum kneift?"
"Soweit ich weiß ja", verkündete Kol Therond, als er aus dem Turm trat.
"Ich denke nicht, dass wir in einem Traum sind, noch kann ich glauben, dass wir uns immer noch in der Feste aufhalten."
"Warum sind sie sich da so sicher Herr K ... ich meine Herr Botschafter?"
"Genau, vor allem wenn Gunnar Recht hat und alles, was gerade passiert, uns in den Kopf gestopft wird."
"Weil es viel zu aufwändig wäre, ein solches Konstrukt aufrecht zu erhalten. Ich müsste mir entweder all diese Diskussionen selber ausdenken, wenn es ein Traum wäre, denn dann wäre alles, was geschieht nur in meinem Kopf - und dazu fehlt mir schlicht die Phantasie - oder wir müssten auf irgendeine Weise miteinander verknüpft sein und in einer gemeinsamen Traumwelt kommunizieren. Das ist Magie, die weit über das hinausgeht, was heute noch möglich ist."
"Ich weiß nicht, was getze möglich ist, aber ich weiß, dass es einen Stab gibt, der wie ein Gott sein soll. Da kann ich mir schon einiges vorstellen, was uns da verwirren könnte."
"Sie haben natürlich recht Herr Sabrecht, aber ich neige dazu, ähnlich wie ihr Lehrmeister, von der einfachsten Möglichkeit auszugehen, mit der etwas erreicht werden kann, das den gegebenen Tatsachen entspricht. Und die Manipulation unserer Erinnerung ist eine sehr viel wahrscheinlichere Erklärung für das ist, was wir derzeit zu erleben meinen."
"Aber heißt es nicht, dass niemand jemals rausgekommen ist?"
"Eine Behauptung, die es zu re-evaluieren gilt. Wenn wir noch in der Fest sind, dann wäre zu überlegen, warum sich, wer immer auch in der Feste befehligt, sich so viel Mühe mit uns machen sollte. Und wenn diese Mühen zielgerichtet ist, dann liegt dieses Ziel vermutlich außerhalb der Feste. Womit wir wieder bei der angesprochenen Behauptung wären."
"Vielleicht war ja nur der Steinhaufen, weiß nicht ... eine Illusion?"
"Das erklärt nicht den Orni."
"Und es ist noch niemand rausgekommen."
Es lag nicht in Kol Theronds Natur, die Augen zu verdrehen, aber es bedurfte eines gehörigen Maßes an Selbstbeherrschung es auch dieses Mal zu unterlassen.
"Was machst du da, Tiscio?"
"Ich versuche Aufzuwachen."
"Und wie willst du das anstellen?"
"Ich weiß nicht. Wache Gedanken?"
Gunnar wandte seine Augen von seinem Freund ab und machte einen Schritt auf den Botschafter zu, der sich abgewandt hatte und in die [Hügelstätte] hinausblickte.
"Gibt es Magie, die Erinnerungen manipuliert."
Für einen langen Augenblick schien der [Hügelstätter] nicht zu antworten, bis die Worte sehr langsam und überlegt hervorstießen: "Es gibt solche Möglichkeiten. Sie sind schwierig und aufwändig. Nur wenige Magier sind in der Lage, eine kleine Erinnerung zu fälschen. Einen solchen Eingriff an so vielen Leuten in so kurzer Zeit durchzuführen ist über alle Maßen erschreckend. Die Konsequenzen ..."
"Dann wäre eine geringe Veränderung unserer Erinnerungen wahrscheinlicher, so wie sie es bereits vermutet haben."
"Wir glauben immer noch, dass wir drinnen sind, in der Feste“, warf Malandro ein.
"Mal hat Recht. Wir latschen rein und wieder raus. Das passt nicht."
"Und noch ‘ne andere Frage: Sind die Oravahler auch betroffen? Haben sie so 'ne dicke Hose, dass sie nicht betroffen sind?"
"Ich glaube, dass wir draußen sind?"
"Du glaubst das, Gunnar?"
"Wenn wir drinnen wären, warum sind dann all die Fehler aufgetaucht? Warum sind sie uns aufgefallen?"
"Und warum sollen gerade wir die ersten sein, die wieder rauskommen?"
"Es besteht die denkbar und erschreckende Möglichkeit, dass wir es nicht sind, Herr Sabrecht."
Dazu schwiegen sie erneut.




Die Jungen aus der Feldstrasse